Was ist Kiezdeutsch?
Kiezdeutsch hat sich mittlerweile als neuer urbaner Dialekt des Deutschen etabliert. Wie auch andere urbane Dialekte (z.B. das Berlinische) ist Kiezdeutsch durch die große sprachliche Vielfalt geprägt, die für Städte typisch ist. Kiezdeutsch hat sich in Wohngebieten entwickelt, in denen unterschiedliche Dialekte, sprachliche Stile und Sprachen zusammenkommen, und dieser vielfältige sprachliche Kontext hat dazu geführt, dass Kiezdeutsch ein besonders innovativer Dialekt des Deutschen ist. So mag jemand, der Kiezdeutsch mit seinen Freund:innen spricht, z.B. Kurdisch mit seiner Großmutter sprechen, Arabisch mit dem Großvater und der Tante, Deutsch mit dem Vater und Kurdisch und Arabisch mit der Mutter. Eine andere Jugendliche, die Kiezdeutsch spricht, mag zu Hause nur Deutsch sprechen, aber von Freund:innen oder deren Eltern etwas Türkisch gelernt haben. Diese vielsprachigen Kompetenzen machen Kiezdeutsch zu einem besonders dynamischen Dialekt, in dem wir Sprachentwicklung quasi im Zeitraffer beobachten können.
Diese Entwicklungen bilden ein eigenes System, ähnlich, wie wir das in anderen Varietäten des Deutschen finden. Die neuen sprachlichen Formen und Konstruktionsmuster sind grammatische Innovationen, die in das System des Deutschen passen. Kiezdeutsch verdeutlicht die Optionen, die das Deutsche bietet, und die möglichen Entwicklungspfade, die sich hieraus ergeben. Aus der Sicht des sprachlichen Systems bildet Kiezdeutsch damit einen Neuzugang, der das Spektrum des Deutschen erweitert. Man wird Kiezdeutsch daher am ehesten gerecht, wenn man es als neuen Dialekt ansieht; als Dialekt des Deutschen, der – wie andere Dialekte auch – die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache weiterentwickelt: ein Sprachgebrauch, der Teil des Deutschen ist, aber vom Standarddeutschen abweicht und eigene, charakteristische Merkmale im Bereich von Lautung, Grammatik und Wortschatz aufweist.
Weil Kiezdeutsch so gut in das System des Deutschen passt, sind seine sprachlichen Charakteristika nichts Fremdes, und die meisten von uns – auch die, die Kiezdeutsch nicht in ihrem Repertoire haben – können die zugrundeliegenden grammatischen Regeln gut einschätzen und wissen z.B. ob man in Kiezdeutsch „Gestern ich war im Kino.“ Oder „Ich gestern war im Kino“ sagen kann. Beides funktioniert im Standarddeutschen nicht, das erste Beispiel ist aber in Kiezdeutsch in Ordnung, während das zweite Beispiel auch dort nicht passt. So etwas erkennen die meisten, die Deutsch beherrschen, problemlos – nicht nur Sprecher:innen, die regelmäßig Kiezdeutsch sprechen. Der Grund ist, dass die erste Wortstellung gut ins System des Deutschen passt; sie ist z.B. auch aus früheren Sprachstufen des Deutschen bekannt. Vermutlich ist diese Möglichkeit der Wortstellung im umgangssprachlichen Bereich nie verloren gegangen, sie ist nur nicht Teil des Standarddeutschen geworden. Kiezdeutsch bringt diese althergebrachte Option wieder in den Blick.
Mehrsprachige urbane Wohngebiete finden sich auch in anderen Ländern, und Kiezdeutsch ist daher kein isoliertes deutsches Phänomen. In Europa werden solche urbanen Dialekte z.B. in Großbritannien, Schweden, Dänemark, den Niederlanden und Frankreich intensiv untersucht, in Afrika sind sie unter anderem für Kamerun, den Senegal, Südafrika, Kenia, Ghana und Tansania beschrieben.
Zum Nachschlagen und Weiterlesen:
Wiese, Heike (2022). Neue Dialekte im urbanen Europa. In: Beatrix Busse & Ingo Warnke (Hg.), Sprache im urbanen Raum / Language in Urban Space. Berlin, New York: de Gruyter [Handbuchreihe Sprachwissen, Band 20]. Kap.II.
Kerswill, Paul, & Wiese, Heike (Hg.) (2022). Urban Contact Dialects and Language Change: Insights from the Global North and South. London: Routledge [Routledge Studies in Language Change, hrsg. von Isabelle Buchstaller & Suzanne Evans Wagner].
Wiese, Heike (2020). Contact in the City. In: Raymond Hickey (Hg.). Wiley Handbook of Language Contact. Hoboken: Wiley-Blackwell. Kap. 13.
Wiese, Heike (2013). Das Potential multiethnischer Sprechergemeinschaften. In: Arnulf Deppermann (Hg.), Das Deutsch der Migranten. Berlin, New York: de Gruyter [Jahrbuch 2012 des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim]. S.41-58.
Wiese, Heike (2012). Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C. H. Beck.
Wiese, Heike (2010). Kiezdeutsch: ein neuer Dialekt. In: Politik und Zeitgeschichte 8/2010. [Themenband: „Sprache“]. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. S. 33-38.