Faculty of Language, Literature and Humanities - Institut für deutsche Sprache und Linguistik

Nachruf auf Manfred Bierwisch (1930-2024)


Manfred Bierwisch, der wohl einflussreichste und vielseitigste deutsche Sprachwissenschaftler, ist am 31. Juli 2024 kurz nach seinem 94. Geburtstag verstorben. Er war ab 1993 Professor für Linguistik am Institut für deutsche Sprache und Linguistik und hat noch lange nach seiner Pensionierung an der Humboldt-Universität gelehrt.

Bierwisch hat in den 1950er Jahren an der Universität Leipzig Germanistik studiert und dort mit seinem Freund Uwe Johnson eine Übersetzung des Nibelungenliedes in neuhochdeutsche Prosa angefertigt. Absolut wegweisend war seine Dissertation, die, überarbeitet, 1963 als Grammatik des deutschen Verbs veröffentlicht wurde. Mit ihr wurde die seltsame Wortstellung des Deutschen – Verbzweitstellung im Hauptsatz, Verbendstellung im Nebensatz – mithilfe von Konzepten der neu entstehenden generativen Grammatik erfasst. Die Analysen sind im Kern noch heute gültig. Es wird hier nicht nur gezeigt, dass die Struktur des deutschen Hauptsatzes paradoxerweise aus der Nebensatzstruktur abgeleitet ist, sondern es werden auch die Regeln hinter der scheinbaren Wortstellungsfreiheit angegeben, die Rolle der trennbaren Präfixe wird erkannt, das unscheinbare Phänomen des Vorfeld-es erhält großes argumentatives Gewicht, und die Formen der infiniten Verben, die sogenannte Statusrektion wird elegant beschrieben.

 

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Manfred Bierwisch bei einem Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2018 Foto: Stefan Müller

 

In dichter Folge erscheinen weitere bahnbrechende Werke. Der Kursbuch-Aufsatz von 1966, “Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden”, hat vor allem in Westdeutschland eine mächtige Wirkung entfaltet. In “Regeln für die Intonation deutscher Sätze” (1966) wird gezeigt, wie die Prosodie von Sätzen von Akzent und Phrasierung abhängt, die selbst wiederum eng mit der syntaktischen Struktur gekoppelt sind. In “Pronominal Inflection in German” von 1967 wurde das Pronominalsystem auf höchst knappe Weise mit Merkmalen, Neutralisierungsregeln und Unterspezifikationen erfasst. In “Neuropsychologie und Linguistik” von 1970 stellt Bierwisch Resultate der Aphasie-Forschung dar, an denen er an der Charité  mitgewirkt hat, und schlägt damit eine erste Brücke zwischen generativer Sprachwissenschaft und den Neurowissenschaften. In dem Aufsatz “Fehler-Linguistik” (1970) zeigt Bierwisch auf, dass sich gerade aus Fehlern in der Sprachverwendung Schlüsse auf die Sprachfähigkeit ziehen lassen, und in “Schriftstruktur und Phonologie” von 1972 weist er nach, dass die Orthografie eine sprachliche Repräsentationsebene mt eigenen Gesetzmäßigkeiten ist, die systematisch mit der Lautstruktur in Beziehung zu setzen ist. In “Musik und Sprache” von 1979 arbeitet er die Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Kommunikationsmedien heraus: Die sprachliche Kodierung ist arbiträr, in der musikalischen determiniert die Form immer auch die Bedeutung, und im Gegensatz zur diskret, oft binär, gegliederten Sprachstruktur finden wir graduelle Gliederungen. In den Folgejahren arbeitet Bierwisch an einer Theorie der sprachlichen Bedeutung, die zwischen einer linguistischen und einer konzeptuellen Ebene unterscheidet, und wendet diese vor allem auf Vergleichskonstruktionen an (1983).

Dies alles geschah unter oftmals höchst schwierigen Umständen, die mit einer zehnmonatigen Haft wegen des unerlaubten Besitzes von westlichen Zeitschriften begannen. Ab 1955 war Bierwisch Mitarbeiter an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, insbesondere bei der Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik. Leitende Stellungen oder eine Professur hat ihm die DDR verwehrt, und er hat die organisatorischen Schwierigkeiten und intellektuellen Erniedrigungen, Wissenschaft in dieser Zeit zu betreiben, ausführlich beschrieben. Dennoch wurde Ostberlin in den sechziger Jahren zu dem wichtigsten Ort, an dem Sprachwissenschaft in Deutschland betrieben wurde und zu dem Sprachwissenschaftler aus westlichen Ländern pilgerten. Erst seit Ende der 1970er Jahre konnte auch Bierwisch ins westliche Ausland reisen – etwa nach Italien, in die USA oder an das Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen. Nach der Wende hat Bierwisch wesentlich an der Neuorganisation der sprachwissenschaftlichen Forschung mitgewirkt, etwa bei der Gründung des Zentrums für Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) und als Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Dabei hat er auf vielfältige Weise weiterhin wichtige Forschungsimpulse für die Sprachwissenschaft und darüber hinaus gegeben – etwa für die Neurowissenschaften, die Evolution der Sprache, aber auch für die Poetik. Für sein Lebenswerk wurde Manfred Bierwisch mehrfach ausgezeichnet – schon 1979 mit einer Ehrenmitgliedschaft der Linguistic Society of America, den Ehrendoktorwürden der Universitäten Leipzig und Halle und dem Wilhelm-von-Humboldt-Preis der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft.

Wir trauern um einen großen Wissenschaftler und Menschen.